Okay, ist Mitte/Ende August, aber gefühlt ists doch der erste Herbsttag hinter dem Fenster. Und da auch hier bisher nichts gepostet wurde (und ich ja jede Foren-Rubrik erobern will) nun mal was zum Nachdenken. Ist zwar schon ne Weile alt - wie man gleich anhand der angerissenen Thematiken erkennen wird - aber hoffentlich doch unter "Interessantes" einzuordnen. Viel Vergnügen, indigos 2te Story:
Herbstgedanken
Wie in jedem Jahr ist es auch schon wieder November geworden und die dunkle Jahreszeit, mit all den traurigen Feiertagen, hat einen eingeholt. Man hat ein wenig mehr Zeit und kommt zum Nachdenken. Mehr und einfacher und tiefer als sonst im Jahr. Bei mir geschieht das bevorzugt auf langen, einsamen Spaziergängen durch matschige, aufgeweichte Waldwege (man hat ja auch sonst kaum was zu tun), immer gegen den steifen, nassen Wind ankämpfend, der aus unerklärlichen Gründen sowohl auf dem Hin- wie auch dem Rückweg schräg von vorne die eh schon belastete Gesichtshaut halbseitig aufquellen lässt. Nachdem ich mich an die anhaltende Gefühlslosigkeit der Wangen schon eine Weile gewöhnt habe setzt der Übergang ein. Hinein in eine tranceähnliche Apathie. Aber genau dieser Zustand ist es auch, der mich aus immer wieder anderen Perspektiven über Gott und die Welt und das Sein an sich nachgrübeln lässt. In meines Waldweges Nebel, dem es gelingt eine ähnlich diffuse Atmosphäre zu schaffen, wie sie in der Waschkaue auffem Pütt bei Schichtwechsel herrscht, erscheinen die kleinsten Dinge plötzlich größer, bedeutender. Der Geist hebt ab und mein vom Wetter gepeinigter Körper findet den Weg von ganz allein. Im November werde ich regelrecht süchtig nach derlei transzendentalen Erlebnissen. Sicher, es passiert dann schon mal, dass ich eine von diesen tückisch verlegten Baumwurzeln übersehe, die den Weg unsichtbar für den lediglich geistig abgehobenen Leib kreuzen, und ich mich in einer ganz intensiven Begegnung mit dem Waldboden wiederfinde. Aber das wird mehr als aufgewogen durch den völligen und geistig klaren Durchblick bei den großen Dingen dieser Welt. Außerdem: was wäre ein schwebender Geist ohne die Basis eines zu Schmerzempfindungen fähigen Körpers? Ich glaube, ziemlich verloren und unkomplett. Selbst der stärkste Geist benötigt einfach einen in Schuss gehaltenen und mit allem, was an Rausch- und Genussmitteln zur Verfügung steht, gepflegten Körper. Und genau das beweise ich mir nach einem solchen Spaziergang sehr gerne selbst. Bei einem Pülleken Bier (einem nach dem anderen) oder auch mal einem Bottich Glühwein. Am liebsten in der Gesellschaft meiner - all meine tiefgründigen Gedanken reflektierenden - Frau. Vor dem Kamin, der leise prasselnd die ersten Briketts der alljährlichen Deputatskohle in die angebrochene Nacht hinein am glühen hält. Und wenn dann die Schatten im unendlich variablem Tanz an den Zimmerwänden zucken ist es schnell geschehen, dass die Gedanken in ihrem Resonanzgehabe erneut in die Ferne schweifen. Meist in die Vergangenheit, wie in einer nostalgischen Wochenschau des Lebens. Man überlegt, ob man wirklich immer alles richtig gemacht hat? Was vielleicht doch so dann und wann ein besserer Weg gewesen wäre? Die Kinder - sind sie so geraten, wie man immer wollte und selbst nie wurde? Hat man die Eltern für ihr Werk, dem aufopferungsvoll dahingegebenen Leben, auch weit genug geehrt? Und dann der unvergessene Moment als ich Kuno, meinem jahrzehntelangen Nachbarn und Vizepräsidenten bei einer der regelmäßig stattfindenden Kleingartenundtaubenzüchtervereinshauptversammlungen des ortsansässigen KTZV-Netteberge gegen Ende der 80er-Jahre etwas unkontrolliert (und zu unrecht, wie ich lange nicht eingestehen wollte und irgendwann wusste) mit einer Bierflasche einen übergezogen habe. Der Alkohol hat bei mir nur nach einem Waldspaziergang eine sentimentalisierende Wirkung. Besonders bei einem langen, starren Blick in ein Kaminfeuer. Überhaupt dreht sich mein grüblerisches Denken dann immer um die ursprüngliche Frage nach Richtig oder Falsch. Letzte Tage kam mir beim späten Lesen der Tageszeitung noch einmal diese unsägliche Affäre um Christoph (die Schneenase) Daum in den Sinn. Da ist der allseits als Fachmann gepriesene Kerl als designierter Schleifer und Cheftaktiker der Fußballnationalmanschaft mit einer Backe bereits fest im Sattel und was macht er? Hält seinen Riechkolben auf ein blank poliertes Tablett und schnüffelt sich das weiße Pulver in die hintersten Gehirnwindungen bis ihm die Augen im zerklüfteten Gesicht zu leuchten beginnen. Das war eindeutig ... falsch! Aber auch relativ harmlos. Im Gegensatz zu noch einem, der diese Tage auch mächtig was falsch macht. Ich denke an diesen bärtigen Mann mittleren Alters, der trotz seiner angeschlagenen Gesundheit irgendwo an einem nicht ermittelbaren Ort in den afghanischen Karpaten, mitten in seinem jahrelang gegrabenen Tunnellabyrinth hockt. Muss er auch (versteckt herumhocken, meine ich), denn die kompletten Vereinigten Kolonien von hinter dem großen Teich würden ihn sonst im Handumdrehen den Balg auf links wenden. Jeder einzelne von denen dort drüben. Was ich mich vor meinem Kamin frage ist, ob dieser im Grunde recht einsame Mann ebenfalls ins Grübeln geraten kann? In Richtung falsch oder richtig. Ob es ihm wohl Leid tut? Ich meine, wenn es so wäre würde es wohl nur für ihn alleine eine Rolle spielen. Und das auch nur ganz, ganz kurz. Niemand sonst würde ihm die Reue und sein eventuelles Bedauern abkaufen und stattdessen vor dem Nachfragen erstmal das ein oder andere ‘Full Metal Jacket’ stahlummantelter Schnellfeuermunition in den vergilbten Kaftan jagen wollen. Was ebenso die Frage nach dem Richtig oder Falsch heraufbeschwören würde. Ist aber auch egal. In meinen Novembergedanken wird sich diese Frage nicht lange einnisten können. In dieser so grauen und nachdenklichen Zeit muss sich ein jeder den Spiegel vor die eigene Nase halten. Und dann das Vergangene vergangen sein lassen um in die Zukunft zu schauen. Um diese dann zu formen, mit dem Schicksal in den eigenen Händen. In meinem Spiegel erscheint dann irgendwann am späteren Abend meine müde, aber lächelnde Frau, die mich ins Bett verfrachten will. Und schon hört das herbstliche Grübeln auf. Dann, beim Blick in ihre Augen, kenne ich meine Zukunft. Genauso wie die Hände, in der sie liegen soll und wird.